Dr. Frank Schirrmacher, Festredner beim Neujahrsempfang von Handwerkskammer und IHK mit Joachim Möhrle, Präsident der Handwerkskammer Reutlingen, Wirtschaftsminister Ernst Pfister und Eberhard Reiff, Präsident der IHK (v.l.n.r.).

12.01.2007

Langlebigkeitsrisiko

[003/07] „Wir haben kein Leitbild für die alternde Gesellschaft.“ Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Festredner des diesjährigen Neujahrsempfangs der Handwerkskammer Reutlingen und der IHK, beharrte dennoch auf Besonnenheit trotz dramatischer Entwicklungen.

Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte die Mehrheit der Bevölkerung noch zu den Jungen gezählt. Jetzt aber würden wir eine Phase erleben, die es weltgeschichtlich noch nicht gegeben habe: „Die Älteren werden in der Mehrheit sein.“

Damit werde auch ein gesellschaftlicher Wandel in Gang gesetzt, der das gesamte Wirtschaftssystem verändern werde. In den 70er Jahren habe man noch davon ausgehen können, dass etwa alle zwölf Jahre die Gesellschaft ‚ausgetauscht’ würde, also genügend jüngere Menschen nachwachsen. Auf dieser Grundlage habe der Staat dann auch Schulden machen können. Jetzt aber sei ein gesellschaftlicher Wandel eingeleitet, der das gesamte Wirtschafssystem verändern werde.

Einen Hoffnungsschimmer sehe er lediglich darin, so Schirrmacher ironisch, dass dies ein globales Phänomen sei. Auch Zuwanderung alleine könne das Problem nicht mehr lösen: bis zum Jahr 2050 müssten nach einer Studie der Vereinten Nationen 190 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern, um die demographische Situation zu lösen.

Letztendlich werde sich die gesamte Kultur der Gesellschaft ändern, da wir kein Leitbild für die alternde Gesellschaft hätten. Deutlich werde das jetzt schon in einem Staat wie Florida mit seinem hohen Altersdurchschnitt: Hier seien nicht mehr Geschwindigkeitsübertretungen im Straßenverkehr das Problem, wie die Polizeistatistik zeige. Vielmehr würden ältere Menschen eher zu langsam fahren und so eine Gefährdung darstellen.

Allerdings sieht Schirrmacher in der wissenschaftlichen Beschreibung des Komplexes als „Langlebigkeitsrisiko“ keinen Lösungsansatz. Vielmehr müsse man Energie aus dem Alter ziehen: „Da sind Ressourcen.“ Die Älteren müssten zurück in die Gesellschaft geführt werden und nicht mit rund 48 Jahren den „sozialen Tod“ sterben - also von Unternehmen ausgemustert werden.

Schließlich wisse die Hirnforschung in der Zwischenzeit, dass das Hirn eine Art Muskel sei, den es wie andere Muskeln auch zu trainieren gelte. Und überhaupt: Heute seien 70-jährige auf dem geistigen Stand eines 50-jährigen aus dem Jahr 1960. Deshalb komme es darauf an, die Ressource „Lebenszeit“ neu zu definieren.